Geringe Diagnoserate im Erwachsenenalter

„ADHS bei Erwachsenen wird kaum erkannt“

Von Nadine Effert · 2022

Portrait: Dr. Johannes Streif
Dr. Johannes Streif

Was ist bei Erwachsenen mit ADHS anders? Welche Therapien sind besonders erfolgversprechend? Das weiß Dr. Johannes Streif. Er ist Psychologe und im Vorstand der Selbsthilfegruppe ADHS Deutschland.

Was passiert im Gehirn von Menschen mit ADHS?

Der aktuelle Stand der Wissenschaft geht von einer genetisch angelegten größeren Dichte der Vernetzung des Dopamin-Systems aus. Diese erlaubt es, auf besonders viele Reize rasch zu reagieren, erschwert jedoch den Fokus auf einzelne Reize und die Ausblendung anderer Reize, die in einer bestimmten Situation nicht relevant sind.

Zeigt ADHS sich bei Erwachsenen anders als bei Kindern?

Erwachsene sind in der Regel weniger hyperaktiv, verspüren allerdings häufig eine beständige innere Unruhe. Ihre verringerte Fähigkeit zur Impulskontrolle zeigt sich meist in ausgeprägten emotionalen Schwankungen. Hierzulande sind etwa zwei Millionen Erwachsene betroffen – oft ohne es zu wissen.

Warum?

Erstens können Erwachsene ihre Lebenswelt in vielen Bereichen selbst wählen und gestalten. Das mindert den Leidensdruck, der aus einer fehlenden Passung zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlicher Realität entsteht. Zweitens scheuen viele Betroffene aufgrund einer möglichen Stigmatisierung eine psychologische und psychiatrische Diagnostik. Drittens sind zumindest die postindustriellen Gesellschaften weitaus vielfältiger und toleranter geworden, wodurch es Betroffenen heute häufig leichter fällt, eine Nische zu finden, in der ihre Eigentümlichkeiten weniger auffallen.

Erst 2011 und 2014 kamen zwei ADHS-Medikamente für Erwachsenen auf den Markt. Wie bewerten Sie diese?

Insofern es sich bei der ADHS um eine neurophysiologisch angelegte Störung der Willkürsteuerung von Aufmerksamkeit und Verhalten handelt, stellt die medikamentöse Therapie die einzige Ursachenbehandlung dar. Natürlich ist sie allein keinesfalls ausreichend, durch die ADHS begünstigten, jedoch in komplexen sozialen Bezügen entstandenen Probleme zu lösen.

Daher braucht es bei entsprechender Schwere der Symptomatik stets auch verhaltenstherapeutische Interventionen.

Richtig. Darüber hinaus sind auch Coaching, systemische Therapien, Feedback-Verfahren wie spezielle Neurofeedback-Programme erfolgversprechend. Allerdings muss eine Therapie stets individuell gewählt und zu Beginn klare Ziele zur therapeutischen Erfolgskontrolle definiert werden.

Was raten Sie Betroffenen?

Sind Sie der Meinung, dass bestimmte Eigentümlichkeiten Ihrer Person, Schwierigkeiten im Alltag und Erfahrungen in Ihrer Biografie Sie in einem Maße belasten und einschränken, dass Sie ohne Hilfe nicht mehr weiterwissen, dann suchen Sie professionelle Unterstützung – oder besuchen Sie zunächst Selbsthilfegruppen oder nutzen Sie Beratungsangebote über das Telefon oder das Internet.

Schon gewusst?

Der ADHS Deutschland e. V. bietet zahlreiche lokale und überregionale Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen an, die für alle Interessierten kostenlos sind. Mehr Informationen zu ADHS und komorbiden Störungen finden Sie hier: www.adhs-deutschland.de

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