Schlechtere Lebensqualität nach Diagnose

Neurologische Erkrankungen nehmen zu

Von Michael Gneuss und Katharina Lehmann · 2022

Bei zwei Dritteln der Menschen entwickelt sich im Laufe ihres Lebens eine neurologische Erkrankung. Nicht nur die Lebensqualität, sondern oft auch die Lebenserwartung ist nach einer Diagnose eingeschränkt. So gelten diese Krankheiten als dritthäufigste Todesursache. Und die Zahl der Betroffenen wird weiter steigen. Nicht zuletzt deshalb wird mehr in die Ursachen- und Therapieforschung investiert.

Hand mit Kugelschreiber und zeichnerische Darstellung eines Gehirns.
Fast 60 Prozent der Deutschen leiden an einer neurologischen Erkrankung. Foto: iStock / Aramyan

In Deutschland leiden über 49,5 Millionen Menschen an einer neurologischen Erkrankung. Das sind 59,6 Prozent der Bevölkerung – ein Wert, der in vielen Ländern und auf vielen Kontinenten ähnlich hoch ist. So sind in der Europäischen Union 307 Millionen Menschen (60,1 Prozent) betroffen, weltweit sind es 50,9 Prozent. Diese Zahlen stammen aus einer von der European Academy of Neurology (EAN) beauftragten Studie über die Krankheitslast in Europa im Vergleich zur Weltbevölkerung, die in „The Lancet Public Health“ erschien. Die Daten wurden im Jahr 2017 erhoben – aktuellere Zahlen gibt es noch nicht. Zu den neurologischen Erkrankungen zählen Alzheimer und andere Demenzformen, Epilepsien, Kopfschmerzen wie Migräne und Spannungskopfschmerz, Multiple Sklerose, Parkinson, maligne Hirntumoren, Motoneuronerkrankungen wie Amyotrophe Lateralsklerose/ALS, Infektionen des Nervensystems und Schlaganfälle. In der EU stellt diese Erkrankungsgruppe die dritthäufigste Ursache von Behinderungen und vorzeitigen Todesfällen nach kardiovaskulären Erkrankungen und Krebserkrankungen dar.

Alterung der Gesellschaft erhöht Fallzahlen: Schlechtere Lebensqualität nach Diagnose

„Die Prävalenz neurologischer Erkrankungen ist hoch – die hohe Zahl hat uns selbst überrascht – und sie wird aufgrund des demografischen Wandels weiter ansteigen“, erklärt Studienautor Professor Günther Deuschl, Seniorprofessor an der Universität Kiel, der anhand der Studie zahlreiche Trends erkennen kann. So nehmen einige Krankheiten wie etwa die Hirnentzündungen ab, andere ohnehin schon häufige Erkrankungen wie Schlaganfall, Alzheimer, Parkinson nehmen dagegen quantitativ zu. „Bemerkenswert ist, dass die Krankheitslast für den Einzelpatienten für einige Erkrankungen aber abnimmt.“ Das beste Beispiel ist der Schlaganfall: So sei die Zahl der Schlaganfall-Patienten in der EU im Zeitraum von 1990 bis 2017 um 25 Prozent angewachsen. Gleichzeitig sei es aber zu einer Reduktion der krankheitsbedingt verlorenen Lebensjahre und der Jahre mit krankheitsbedingt verminderter Lebensqualität um 54 Prozent gekommen. Dies dürfte laut Professor Deuschl vor allem an den Fortschritten der neurologischen Therapien – insbesondere in spezialisierten Klinikabteilungen – sowie an der verbesserten Prävention liegen. „Die Daten legen nahe, dass neurologische Versorgung und Prävention wirksam sind“, sagt Deuschl. Sie sind für ihn ein klares Signal, dass für alle neurologischen Erkrankungen eine bessere Versorgung sowie mehr Forschung etabliert werden sollten. Ähnlich sieht das Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN): „Die Prävalenz neurologischer Erkrankungen wird aufgrund der Veränderungen der Altersstruktur in Deutschland und Europa weiter zunehmen – darauf müssen wir uns einstellen.“ Die DGN fordert deshalb von der Gesundheitspolitik, die Versorgungsstrukturen entsprechend zu stärken und Präventionsprogramme auf den Weg zu bringen. Denn die Zahlen zeigten auch, dass eine gute neurologische Versorgung wirksam ist und die Zahl der verlorenen Lebensjahre für jeden einzelnen Patienten reduzieren kann.

Corona erhöht das Risiko

Fraglich ist derzeit auch, ob und inwieweit eine Covid-19-Infektion zu neurologischen und psychiatrischen Problemen führen kann. Britische Forschende haben deshalb die Krankenakten von 1,28 Millionen Covid-19-Patienten und von ähnlich vielen Menschen mit einer anderen Atemwegserkrankung ausgewertet. Ergebnis: Gerade bei älteren Covid-19-Infizierten deutet die Studie auf etwas höhere Risiken für Bewusstseinstrübungen (Brain Fog), Demenz, psychotische Schübe sowie Epilepsie hin – und das auch am Ende der zweijährigen Nachbeobachtungszeit. Auf 10.000 Patientinnen und Patienten gerechnet, gab es in der Covid-Gruppe der 18- bis 64-Jährigen 640 Fälle von Bewusstseinstrübungen, während es in der Kontrollgruppe 550 Fälle waren. Bei den über 64-Jährigen traten 450 Fälle von Demenz bei 10.000 Covid-Patienten auf, in der Kontrollgruppe waren es 330 Fälle. Bei mit Corona infizierten Kindern jedoch wurden solche Spätfolgen nicht beobachtet. Auch erhöht die Impfung gegen das Coronavirus nicht das Schlaganfallrisiko, wie aktuelle Studien darlegen. „Die vorliegenden Daten zeigen zumindest für die mRNA-Impfstoffe keinerlei Sicherheitssignale in Bezug auf ein erhöhtes Schlaganfallrisiko“, erklärt DGN-Generalsekretär Berlit. Gleich zwei Erhebungen, die die Daten sehr großer Kohorten ausgewertet haben, seien zu dem Ergebnis gekommen, dass mRNA-Vakzine gegen SARS-CoV-2 das Schlaganfallrisiko nicht erhöhen. „Die Sorge deswegen sollte also Menschen nicht davon abhalten, sich impfen zu lassen.“ Ganz im Gegenteil: Der Experte betont, dass die SARS-CoV-2-Infektion mit einer höheren Schlaganfallrate einhergehe und die Impfung somit vor Schlaganfällen schütze. Das zeigte jüngst eine koreanische Studie.

Neue Therapieansätze

Die gute Nachricht: Gerade im Bereich der Vorbeugungs- und Therapiemethoden für neurologische Erkrankungen wird viel geforscht. Neue Medikamente und moderne Behandlungsmethoden mindern zum Beispiel die Schubstärke und Schubhäufigkeit bei Multipler Sklerose und verbessern so die Lebensqualität der Betroffenen signifikant. Auch ist mit dem Epstein-Barr-Virus ein möglicher Auslöser der Erkrankung ins Visier der Forschenden geraten – eine Impfung gegen das Virus könnte auch die neurologische Erkrankung verhindern. Neue Therapieansätze gibt es auch im Bereich der Migräne- und Schlaganfallbehandlung. Bewegungstherapien und Lebensstiländerungen helfen bei vielen neurologisch bedingten Erkrankungen, die Lebensqualität zu steigern und das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen. Und auch im Bereich der Alzheimer- und Demenzerkrankungen sind die Forschenden den Ursachen und Auslösern auf der Spur.

Gesundheit des Gehirns fördern

Ein Stück weit haben wir es aber auch selbst in der Hand, die Gesundheit unseres Gehirns zu stärken. So seien nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO gute soziale Kontakte und anregende Beschäftigungen zuträglich. Unter anderem förderten die lebenslange Weiterentwicklung und das Erlernen neuer Fähigkeiten wie Fremdsprachen oder Musik sowie Lesen und der intellektuelle Austausch mit anderen die Gehirngesundheit. Studien zufolge hätten Menschen mit geistig anregenden Berufen ein geringeres Risiko, an Demenz zu erkranken als Menschen mit weniger anregenden Berufen. Bei Ersteren finden sich geringere Mengen bestimmter Proteine, die die Bildung von Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn beeinträchtigen. Zudem hätten Menschen mit einer größeren Anzahl von sozialen Beziehungen im Erwachsenenalter umfangreichere Gehirnstrukturen in der Großhirnrinde als einsamere Menschen. „Soziale Isolation und Einsamkeit im fortgeschrittenen Erwachsenenalter sind mit einem höheren Risiko der Entwicklung von kognitiven Beeinträchtigungen und Demenz verbunden“, warnt die WHO. Aber auch Regierungen sind gefragt: Sie müssten der WHO zufolge die Bedingungen für eine bessere und lang anhaltende Gesundheit, also eine saubere Umwelt, mehr Sicherheit und Bildung, weitere Begegnungszentren sowie ein erreichbares und bezahlbares Gesundheitswesen, schaffen.

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